Am Vortag ist Leon Weintraub noch mit der Paracelsus-Medaille, der höchsten Auszeichnung der deutschen Ärzteschaft, ausgezeichnet worden. Tags darauf (17. Mai) stand er am Rednerpult des Audimax der Hochschule Niederrhein am Campus Mönchengladbach. Diesmal ging es nicht um sein Wirken als Mediziner, sondern um seine Lebensgeschichte vor seinem Medizinstudium in Göttingen 1946. Weintraub erzählte vor mehr als 300 Studierenden, Hochschulmitarbeitenden und externen Besuchern, wie sehr seine Familie und er unter dem NS-Regime litten:
„Die Erinnerung an das Geschehene lebendig zu halten, ist eine Art Gewähr dafür, dass so etwas nie wieder vorkommt. Das Schlimmste ist das Vergessen." - Leon Weintraub
Dieses Zitat von Leon Weintraub spiegelt seine Motivation wieder, warum er heute im stolzen Alter von 97 Jahren noch Vorträge über seine (Über-)Lebensgeschichte hält. Weintraub ist Zeitzeuge der Verbrechen der Nationalsozialisten an der jüdischen Bevölkerung.
Im zweistündigen Vortrag schilderte er eindrücklich, was ihm während der NS-Zeit widerfuhr. Er sei es seinen von den Nazis ermordeten Familienmitgliedern schuldig, nicht aufzuhören, über das Erlebte zu sprechen, sagte Weintraub.
Leon Weitraub wurde 1926 als fünftes Kind einer jüdischen Familie im polnischen Łódź geboren und wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf. Mit 13 Jahren erlebte er im Zuge des deutschen Überfalls auf Polen den Einmarsch der Wehrmacht. 1940 wurde er zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in das Ghetto Litzmannstadt umgesiedelt. Im August folgte die Deportation der Familie in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Er wurde vom Rest seiner Familie getrennt. Seine Mutter und seine Tante wurden von den Nazis in Auschwitz ermordet. Dort entging er der Vergasung durch den unbemerkten Anschluss eines Gefangentransports. Er selbst wurde von Auschwitz zunächst in das Konzentrationslager Groß-Rosen und dann in die Konzentrationslager Flossenbürg und Natzweiler-Struthof/Offenburg deportiert.
Er erlebte quälende Jahre, in denen er nicht wusste, wie er den Schmerz des Hungerns aushalten sollte, in denen er ständig um sein Leben bangen musste und mit körperlicher Schwerstarbeit ausgebeutet wurde. Es waren Jahre voller Gewalt und Hass.
Im April 1945 gelang ihm auf einem Fußmarsch, nachdem der Zug bombardiert wurde, die Flucht. Im Audimax erzählte er von dem Wiedersehen mit seinen drei älteren Schwestern, die das KZ Bergen-Belsen überlebt hatten und davon ausgegangen waren, ihren Bruder nie wiederzusehen.
Nach Kriegsende nahm Weintraub 1946 das Medizinstudium in Göttingen auf, ab 1950 arbeitete er in einer Frauenklinik in Warschau. 1966 folgte die Promotion. Seine Anstellung als Oberarzt an der Frauenklinik in Otwock verlor er im März 1969 als Folge des zunehmenden Antisemitismus in Polen. Im selben Jahr emigrierte er mit seiner Familie nach Stockholm. Seinen Beruf als Gynäkologe übte er bis 1992 in Schweden aus. 2004 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. Seine persönliche Geschichte hat er auch in einem Buch festgehalten.
Trotz des Erlebten hat Weintraub nie den Mut und die Hoffnung aufgegeben, dass Verstand und Vernunft siegen werden. Leon Weintraub appellierte an die Besucher, stets „menschlich zu bleiben“ und anderen Menschen offen ohne Vorurteile zu begegnen. Angesichts der wieder aufkeimenden fremdenfeindlichen Strömungen versteht er seine Schilderungen auch stets als Mahnung.
„Haben Sie Frieden gefunden?“, fragte ein Zuhörer. „Ohja, das habe ich!“, sagt Weintraub lächelnd und ohne Zögern.
Dass mit Leon Weintraub einer der noch wenigen lebenden Zeitzeugen an die Hochschule Niederrhein gekommen ist, ist der Kooperation des Fachbereichs Sozialwesen, des katholischen Hochschulzentrums Lakum in Krefeld sowie der NS-Dokumentationsstelle Villa Merländer Krefeld zu verdanken.